Erfolgsrezept Reverse Mentoring: So funktioniert der Wissenstransfer zwischen den Generationen

Von Rosa Trieu

Stillstand ist Rückschritt: Das gilt heute mehr als je zuvor. Im Zeitalter der disruptiven Innovationen kann sich kein noch so etabliertes Unternehmen leisten, auf den Lorbeeren von gestern zu ruhen. Bei dem 1989 gegründeten Fertigungsunternehmen Hosokawa Micron Ltd. erweist sich das Prinzip des Reverse Mentoring zunehmend als Heilsweg aus dem Dilemma, den optimalen Ausgleich zwischen Traditionsbewusstsein und Zukunftsfähigkeit zu finden.

Was Hänschen nicht lernt, kann Hans immer noch lernen, wie die jüngere Forschung auf dem Gebiet der neuronalen Plastizität erwiesen hat. Tatsächlich bleibt das menschliche Gehirn nicht nur bis ins Alter für neue Informationen aufnahmefähig, sondern es reagiert auf neuartige Reize, indem es sich verändert.

Bei dem britischen Unternehmen begann man, bewusst blutjunge Mitarbeiter einzustellen, darunter 16-Jährige, die keinen blassen Schimmer von Maschinenbau hatten. Wie sich bald herausstellte, kam diese Strategie beiden Alterskohorten zugute.

„Die Mitarbeiter der älteren Generation sahen, dass junge Leute ganz anders an Probleme herangehen“, so der Geschäftsführer Iain Crosley. „Die Älteren suchen sich jemanden mit entsprechender Erfahrung und sprechen das jeweilige Problem mit ihm durch. Die Jüngeren gehen auf der Suche nach einer zielführenden Lösung ins Internet, probieren es mit allen möglichen Suchanfragen, technischem Schnickschnack und Hilfsmitteln. Sie sind eher technologieorientiert als anwendungsorientiert.“

Bei Hosokawa wollte man durch Bekämpfung von Untermotivierung, Unzufriedenheit und mangelndem Engagement in der Belegschaft – deren Durchschnittsalter jenseits der 40 liegt – die Produktivität stärken. Ob die Reverse-Mentoring-Initiative tatsächlich die erhoffte Wirkung erzielen würde, stand dabei zunächst in den Sternen.

Reverse Mentoring ist keineswegs eine neue Idee. Schon in den 1990er Jahren ließen sich auf Betreiben des damaligen Konzernchefs Jack Welch 500 Führungskräfte bei General Electric von jüngeren Mitarbeitern in die Geheimnisse des Internets einweisen. Dass der Firmenwert von GE unter Welchs Ägide um 4.000 Prozent anstieg, spricht für den Erfolg seiner Initiative.

Das Reverse-Mentoring-Programm bei Hosokawa beruht auf Gegenseitigkeit: Ältere Mitarbeiter (bis zu 65 Jahren) unterstützen jüngere Kollegen bei der Einarbeitung in die Berufspraxis und Entwicklung von Sozialkompetenzen. Im Gegenzug lernen sie von ihren jüngeren Partnern, wie sich technologische Lösungen zur Bewältigung von Hindernissen einsetzen lassen.

Schranken in den Köpfen abbauen

Die Erfahrung habe gezeigt, dass die jüngeren Mentoren diese Hindernisse oft gar nicht als solche wahrnehmen. Allerdings bestehe bei der jüngeren Kohorte die Erwartungshaltung, dass sich die Antworten auf sämtliche Fragen auf Anhieb – mit einem Klick – im Internet finden ließen, berichtet Crosley. Mitglieder der sogenannten Millennial-Generation müssen sich immer wieder den Vorwurf gefallen lassen, ihnen mangele es an Konzentrationsvermögen und Sitzfleisch. Bei Hosokawa sieht man die Tendenz, mehrere Dinge gleichzeitig machen zu wollen, statt sich geduldig auf eine einzige Aufgabe zu konzentrieren, als wichtige Kompetenz an. Branchenweit stelle die Herausforderung, Mitarbeiter zur Nutzung neuer Technologien zu bewegen, ein sehr viel größeres Problem dar.

„Bei der Fertigungsplanung kommen sie dann mit Kommentaren wie: ‚Warum macht ihr die Entwürfe nicht mit Inventor von Autodesk und könnt dann mehr Details einpflegen?‘“‚ so Crosley. „‚Warum ändert ihr eure gewohnten Arbeitsabläufe nicht einfach?‘ Ältere Mitarbeiter gehen das Problem an, indem sie die Maschinen physisch hin und her schieben – die Jüngeren schnappen sich ihr iPad und zeichnen.“

Über den Wissenstransfer zwischen den Generationen hinaus hatte das Programm erfreuliche Nebenwirkungen: Zum einen verschaffte es dem Unternehmen einen Ruf als begehrter Arbeitgeber mit guten Aufstiegschancen für Nachwuchskräfte. Zum anderen löste es bei gestandenen Mitarbeitern einen Motivationsschub aus.

„Wir haben festgestellt, dass das veränderte Arbeitsumfeld auch Veränderungen bei den Mitarbeitern auslöst – sie bringen sich jetzt in Bereichen ein, die außerhalb ihres eigentlichen Aufgabenbereichs liegen“, erzählt Crosley. „Das baut Schranken in den Köpfen ab. Und es hat die Leute echt motiviert.“

Durch Reverse Monitoring lässt sich beim Bau neuer Maschinen Kosten und Produktionszeit sparen. Mit freundlicher Genehmigung von Hosokawa Micron Ltd.

Teamarbeit statt Generationenkonflikt

Zur konkreten Veranschaulichung erzählt Crosley von einem Projekt, bei dem anhand bereits vorhandener 2D-Zeichnungen eine neue Fräse gebaut werden sollte. Hier war ein kooperativer Ansatz gefragt, um das Projekt unter Einhaltung der Termin- und Budgetvorgaben unter Dach und Fach zu bringen.

„Außerdem zeigte sich dabei in aller Deutlichkeit, wie unterschiedlich ein erfahrener Ingenieur mit über 30-jähriger Erfahrung und ein 20-jähriger Maschinenbaulehrling an ein derartiges Projekt herangehen“, so Crosley. „Dadurch erwies sich das Projekt als sehr effektive Reverse-Mentoring-Übung, von der letztlich alle profitierten.“

Der Ältere habe aus seinem umfangreichen Erfahrungsschatz geschöpft und vorgeschlagen, nach einer Grobprüfung der Zeichnungen nach dem „Pi mal Daumen“-Prinzip Nennmaße für die Teile festzulegen und einen entsprechenden Prototyp zu bauen. Die Montage und Feinanpassung des Prototyps sollte dann in der Werkstatt erfolgen.

Der Jüngere hingegen hielt es für sinnvoller, mithilfe von automatisierten Planungstools aus den 2D-Zeichnungen ein 3D-Modell zu erstellen. Durch Kollisionsprüfung wollte er im Voraus feststellen, ob die einzelnen Bauteile miteinander kompatibel wären, und dann ein simuliertes Modell zur ergonomischen Bewertung herstellen. Die Fertigung eines Prototyps werde dadurch überflüssig, wie er argumentierte.

Letztlich waren sich beide einig, dass sich durch den Einsatz neuer Methoden und Verfahren nicht nur die Kosten senken und die Produktionsfristen verkürzen ließen, sondern dass am Ende auch die Qualität des Entwurfs optimiert werden konnte.

„Beide lernten dabei die Kompetenzen und Methoden des jeweils anderen zu schätzen und erlebten die gemeinsame Arbeit an der Lösung des Problems als bereichernd und motivierend“, so Crosley.

Ein Vorbild für Mitbewerber in der Fertigungsbranche

Im produzierenden Gewerbe finden aktuell Umwälzungen statt, die gerade aus Sicht der Arbeitnehmer mit großen Herausforderungen verbunden sind, wie Crosley erläutert. Viele körperlich anstrengende bzw. repetitive Aufgaben fallen durch die zunehmende Automatisierung weg. Indes werden für die Präzisionsarbeiten beim Bau dieser Maschinen auch weiterhin hochqualifizierte menschliche Fachkräfte benötigt.

„Diese Nachwuchskräfte haben oft jede Menge Ideen, was man in bautechnischer Hinsicht oder bei der Laserausrichtung alles besser machen könnte“, berichtet Crosley.

Früher mussten Ingenieure vor allem rechnerische Aufgaben lösen können; heutzutage brauchen sie interdisziplinäre Fähigkeiten. Dafür stehen ihnen allerhand technologische Hilfsmittel zur Verfügung, die sie bei ihrer Arbeit unterstützen können.

Je weiter die Innovationen auf den Gebieten der Automatisierung, virtuellen Realität und künstlichen Intelligenz voranschreiten und in die Arbeitsabläufe der Fertigungsbranche integriert werden, desto wichtiger werden Crosley zufolge Ansätze, die den älteren Jahrgängen das Knowhow der jüngeren Mitarbeiter nahebringen und zugleich die Kompetenzen der Älteren nutzen, um vielversprechende Nachwuchskräfte als teamfähige Kollegen in die Unternehmenskultur einzubinden.

Dieser Artikel erschien ursprünglich auf Redshift, einer Autodesk-Publikation, um Designer, Ingenieure, Architekten und Hersteller zu inspirieren. Haben Sie Lust auf mehr Inhalt? Abonnieren Sie den Redshift-Newsletter.