Utopie in der Dystopie: Ein Science-Fiction-Roman zeigt, wie digitale Zusammenarbeit funktioniert

Von Andrew Anagnost

Wer mit Kindern zu tun hat, weiß, dass sie sich nicht ablenken lassen, wenn sie einen Bildschirm vor sich haben – da kann man noch so laut rufen, mit den Armen fuchteln oder Leuchtkerzen gen Himmel schießen. Sie sind einfach in eine andere Dimension abgetaucht.

Statistiken zum digitalen Medienkonsum von (Kleinst-)kindern und Jugendlichen klingen gleich weniger alarmierend, wenn man bedenkt, dass wir auch schon zu meiner Schulzeit ganze Nachmittage bzw. Samstagvormittage vor der Glotze mit hirnlosen Zeichentrickserien totgeschlagen haben.

Für die Figuren in Ernest Clines Cyber-Fiction-Roman „Ready Player One“ (2018 von Steven Spielberg verfilmt) bietet die Flucht in eine Computer-Simulation, die OASIS (Ontologically Anthropocentric Sensory Immersive Simulation), eine willkommene Möglichkeit, ihrer dystopischen Lebenswelt wenigstens vorübergehend zu entkommen. Kein Wunder also, dass sie dort so viel Zeit wie möglich verbringen und nur gelegentlich in die physische Realität zurückkehren.

Der in den 2040er-Jahren spielende Roman zeichnet das Horrorszenario eines Planeten am Rande des Abgrunds: Turbokapitalismus, globale Energiekrise, katastrophaler Klimawandel, grassierende Seuchen und Hungersnöte. Etliche Menschen leben in prekären Verhältnissen in sogenannten „Stacks“ – Slums aus übereinandergestapelten Wohnmobilen. Andere verdingen sich als Tagelöhner an einen ausbeuterischen Konzern namens Innovative Online Industries (IOI).

Als einziger Hoffnungsschimmer in dieser ausweglosen Lage winkt die Chance auf das Easter Egg, das der Schöpfer der OASIS – ein genialer Spieleentwickler namens James Halliday – in seiner virtuellen Welt versteckt hat. Um den Schatz zu finden, bevor er den gierigen IOI-Leuten in die Hände fällt, muss der Protagonist Wade Watts bzw. sein Avatar Parzival gemeinsam mit seinen Online-Freunden Aech, Art3mis, Daito und Shoto eine Reihe von kniffligen Aufgaben lösen.

Fließende Übergänge zwischen physischer und virtueller Realität

Meine Generation hat sich ihre Zukunftsvorstellungen aus Science-Fiction-Büchern zusammengereimt. Heute finden Kinder und Jugendliche positive Botschaften in den apokalyptischen Landschaften, die in Fiktionen wie „Ready Player One“ dargestellt werden.

Entsprechend wachsen sie in der Erwartung einer zunehmenden Fusion zwischen physischer und virtueller Welt auf, die von neuartigen Schnittstellen, Arbeitsabläufen und Technologien ermöglicht wird.

Bei Computerspielen können in der Regel mehrere Szenarien virtuell durchgespielt werden, bevor man sich endgültig festlegt und einen bestimmten Weg einschlägt. Dadurch wird die Fähigkeit gefördert, mithilfe der Technologie buchstäblich spielerisch neue Kenntnisse und Kompetenzen zu erwerben. Wer solche Spiele als Erkundungs- und Lernmittel nutzt, anstatt aus mangelnder Realitätskompetenz den Rückzug in die virtuelle Welt anzutreten, wird in den kommenden Jahrzehnten einen Vorsprung gegenüber vielen Mitmenschen haben.

Unternehmen werden bei der langfristigen Personalplanung berücksichtigen müssen, dass sich die Generation der „Digital Natives“ in der virtuellen Realität – und der virtuellen Zusammenarbeit mit anderen – sehr viel heimischer fühlt als ältere Mitarbeiter. Dass die nachrückende Generation neue Ansprüche an ihren Arbeitsalltag stellt, war schon bei jedem Generationswechsel so. Neu ist, dass die Nachwuchskräfte von heute und morgen zunehmend nach Möglichkeiten suchen, ihre physischen und digitalen Welten miteinander zu integrieren. Unternehmen werden sich nur dann weiterhin am Markt behaupten können, wenn sie Wege finden, diesen Erwartungen gerecht zu werden.

Wer viel daddelt, kann mehr

In Clines Roman begreift Wade/Parzival, dass seine Realitätsflucht in die virtuelle Welt zum Verkümmern menschlicher Eigenschaften und Erfahrungen führt – beispielsweise hat er monatelang nicht mehr den Himmel gesehen, Sport getrieben oder eine richtige Mahlzeit gegessen. Andererseits schärft das Durchspielen virtueller Szenarien seine Problemlösungskompetenzen und bietet ihm Raum zum Experimentieren. Wenn etwas nicht auf Anhieb gelingt, kann er es mehrmals neu versuchen und muss dabei nur aufpassen, dass ihn kein anderer Spieler einholt.

Meine Tochter spielt liebend gerne das Online-Leseabenteuer „Reading Eggs“. Oft macht sie mehr falsch als richtig, aber das ist überhaupt nicht schlimm, denn es gibt niemanden, der ihr dabei über die Schulter guckt oder sie gar benotet. Wenn ich ihr bei den Mathe-Hausaufgaben helfe, ist sie sehr viel angespannter – nicht zuletzt, weil Eltern nun mal nerven. Von der App, die bei jedem Fehler „Bonk“ macht, lässt sie sich hingegen nicht beirren.

Es macht ihr nichts aus, immer wieder zu scheitern, bis sie schließlich die Formel geknackt hat. Beim Experimentieren in der virtuellen Realität kann sie quasi um die Ecke sehen, indem sie so lange unterschiedliche Szenarien durchspielt, bis sie das richtige gefunden hat. Wer viel daddelt, entwickelt hierfür eine quasi verinnerlichte Begabung.

Vorurteilsfreie Zusammenarbeit in der virtuellen Realität

Zu den Nebenmotiven bei „Ready Player One“ zählt die Erkenntnis, dass Menschen, die sich in der realen Welt nie als Team zusammengefunden hätten, in der Simulation gemeinsam neue Wege zur Lösung von Problemen gehen. Zusammen können sie mehr, und ein vorurteilsfreier Pluralismus ist dabei selbstverständlich. Ich vertrete zwar nicht die Auffassung, dass die Anonymität der virtuellen Welt eine Voraussetzung für die Zusammenarbeit zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft und Weltanschauung ist. Dennoch leuchtet mir durchaus ein, dass man Menschen, die man nicht sehen kann, ausschließlich aufgrund ihrer Reaktionen und Fähigkeiten anstatt aufgrund von oberflächlichen physischen Merkmalen beurteilt

Ist Anonymität problematisch, wenn sie ein Treffen zwischen zwei Menschen ermöglicht, die sich ansonsten nie kennengelernt hätten? Natürlich wird sie zum Problem, wenn sie zulässt, dass sich das Internet von seiner schlimmsten Seite zeigt – nämlich in Form von Trollen und Cyber-Mobbing. Was ist aber, wenn eine Person, die sich in der physischen Welt niemals getraut hätte, ihre geniale Idee anderen Menschen mitzuteilen, unter dem Tarnmantel der Anonymität dazu befähigt wird und dadurch etwas in Gang setzt?

In dieser Hinsicht steckt in dem dystopischen Roman „Ready Player One“ viel utopisches Gedankengut: Dort finden Figuren aus vollkommen unterschiedlichen Verhältnissen zusammen, ohne diese Unterschiede je zu thematisieren. Sie lösen gemeinsam Probleme und müssen im Nachhinein ihre physischen und virtuellen Identitäten miteinander vereinbaren, bis ihnen schließlich klar wird, dass sie bessere Menschen sind, als sie je gedacht hätten.

Eine Umgebung wie die OASIS verstehe ich als Möglichkeit, Dinge auszuprobieren, miteinander zu kombinieren oder misslingen zu lassen, Entscheidungen zu treffen und im Handumdrehen eine Gruppe von Menschen aus aller Welt und mit unterschiedlichen Anschauungen und Erfahrungen zusammenzubringen, um gemeinsam Aufgaben zu bewältigen. Persönlich würde ich nicht so arbeiten wollen – aber um meine Vorlieben und Abneigungen geht es hier nicht. Für die Generation der digital Geborenen ist es ganz normal, Tausende Freunde zu haben, die sie nur aus dem Internet kennen. Ihnen wird es ebenso selbstverständlich vorkommen, virtuell und standortfern mit anderen Menschen zusammenzuarbeiten – zumal die einschlägigen Tools immer „lebensechtere“ Szenarien ermöglichen.

In Zukunft werden Planer und Ingenieure womöglich gemeinsame Projekte erfolgreich abwickeln, ohne sich je persönlich gegenüberzusitzen. Stattdessen können sie in einer XR-Umgebung (die Abkürzung steht für Extended Reality bzw. Erweiterte Realität und ist ein Sammelbegriff für verschiedene Mensch-Maschine-Interaktionen und Kombinationen aus realen und virtuellen Elementen) kommunizieren, planen, gestalten, analysieren und entscheiden.

Das Gewohnte, Vertraute und Altbewährte hinterfragen

Natürlich wegen der vermeintlichen langfristigen Sicherheit ermuntern viele Eltern ihre Kinder, sich schon in sehr jungem Alter Programmierkenntnisse anzueignen. Indes ist keineswegs sicher, wie sich die Nachfrage nach Programmierern in naher Zukunft entwickeln wird. Softwareentwicklung ist genauso wenig vor Strukturwandel und Automatisierung gefeit wie beispielsweise der Beruf des Fernfahrers.

Selbst wenn es zukünftig weniger Arbeitsplätze für Programmierer gibt, werden technologische Kompetenzen weiterhin gefragt sein. Insbesondere die Überbrückung der Kluft zwischen Mensch und Maschine dürfte dabei zu den wichtigsten Aufgabenbereichen überhaupt zählen.

Menschen, die sich in einer maschinell unterstützten Arbeitswelt problemlos zurechtfinden und in der Lage sind, Herausforderungen mithilfe einer Kombination aus künstlicher und menschlicher Intelligenz zu lösen, werden hervorragende Chancen haben. Die Voraussetzungen dafür sind Kreativität, Flexibilität und die Fähigkeit zur iterativen Planung.

Wie Wade und seine Mitspieler möchten viele Menschen zur Schaffung einer Welt beitragen, in der sich der Lebensstandard für die bedürftigsten Mitmenschen rapide verbessert und die auch für nachfolgende Generationen lebenswert bleibt.

Vielleicht können Technologien wie Generatives Design Planer und Ingenieure dabei unterstützen, indem sie ständig gefordert werden, die eigenen Vorannahmen zu hinterfragen? Für mich bedeutet Wachstum – im Privat- wie im Berufsleben – ein ständiges Hinterfragen des Gewohnten, Vertrauten und Altbewährten. Und dafür ist Technologie ein hervorragender Katalysator.

Dieser Artikel erschien ursprünglich auf Redshift, einer Autodesk-Publikation, um Designer, Ingenieure, Architekten und Hersteller zu inspirieren. Haben Sie Lust auf mehr Inhalt? Abonnieren Sie den Redshift-Newsletter.